Immer mehr Fälle von sexualisiertem Missbrauch in den beiden großen Konfessionskirchen in Deutschland werden bekannt und kommen auch vor Gericht.
Die Opferzahlen sind weitaus höher als zunächst angenommen. Nach einer am 25.01.2024 vorgestellten Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sind mindestens 9.355 Kinder und Jugendliche seit 1946 Opfer sexueller Gewalt in der Evangelischen Kirche geworden. Die Opferzahlen in der Katholischen Kirche dürften ähnlich hoch sein.
Beide Kirchen haben Anerkennungskommissionen eingesetzt, die sich eigene Verfahrensordnungen gegeben haben. Nach der in der Evangelischen Kirche geltenden Verfahrensordnung waren Anerkennungsleistungen von 5.000,00 EUR bis maximal 50.000,00 EUR vorgesehen. In der Katholischen Kirche lagen die Anerkennungsleistungen bis 2023 nur in etwa 8 % der Fälle über 50.000,00 EUR.
Das dürfte sich – jedenfalls für die Evangelische Kirche – in nächster Zeit grundlegend ändern. Die Kirchenkonferenz der EKD hat am 21.03.2025 eine neue Anerkennungsrichtlinie beschlossen, die am 01.04.2025 in Kraft getreten ist und in den einzelnen Landeskirchen im Laufe des Jahres 2026 umgesetzt werden soll.
Die neue Richtlinie wurde auf Wunsch der Synode der EKD im Beteiligtenforum Sexualisierte Gewalt mit Betroffenen und Experten erarbeitet. Mit der neuen Richtlinie wurde die Grundlage geschaffen, um den nicht mehr hinnehmbaren Zustand zu beenden, dass Anerkennungsverfahren für ähnliche Taten in verschiedenen Landeskirchen zu verschiedenen Ergebnissen geführt haben. Betroffene hatten dies völlig zu Recht kritisiert.
Die Richtlinie enthält zahlreiche Verbesserungen für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Dazu gehört, dass die Anerkennungsleistungen künftig in einem Kombi-Modell erfolgen. Basis ist die individuelle Leistung, die die Betroffenen mit ihren individuellen Situationen in den Mittelpunkt stellt. Sie orientiert sich an der Tat und den individuellen Trauma-Spätfolgen für Betroffene und bewirkt, dass sie als Person mit ihren jeweiligen spezifischen Erfahrungen gesehen und gehört werden. Für diese individuellen Leistungen gibt es keine Obergrenze. Zusätzlich gibt es künftig eine pauschale Leistung in Höhe von 15.000,00 EUR in Fällen von strafbaren Taten. Insgesamt wird mit dieser Reform die Höhe der Anerkennungsleistungen deutlich steigen.
Die neue Anerkennungsrichtlinie-EKD sieht ein eigenes Rechtsmittelverfahren gegen die Entscheidungen der Kommission vor und lässt den Weg zu den ordentlichen Gerichten offen.
Bei den stetig zunehmenden gerichtlichen Verfahren hat insbesondere das Urteil des Landgerichts Köln vom 13.06.2023 (Aktenzeichen: 5 O 197/22) Signalwirkung gehabt. Das beklagte Erzbistum ist danach für den sexuellen Missbrauch durch einen Pfarrer in den 70iger Jahren zu einem Schmerzensgeld von 300.000,00 EUR verurteilt worden. Das Urteil ist rechtskräftig.
In der Rechtsprechung ist inzwischen anerkannt, dass sich der Anspruch gegen die Anstellungskörperschaft richten kann. Die Haftungsvorschriften der Amtspflichtverletzung finden entsprechende Anwendung. Vorausgesetzung der Amtshaftung ist, dass der Schädiger im Rahmen von kirchlichen Aufgaben tätig geworden ist.
Die größte rechtliche Hürde der Klägerseite ist jedoch die Verjährung, da viele Taten über Jahrzehnte zurückliegen. Die Einrede der Verjährung muss jedoch ausdrücklich von der Beklagten erhoben werden und nicht auf sie – wie in dem genannten Verfahren vor dem Landgericht Köln – verzichtet werden. Sofern die beklagten Kirchen die Einrede der Verjährung erheben, werden sich die Gerichte in den nächsten Jahren mit der Frage beschäftigen müssen, ob die Erhebung der Verjährungseinrede in diesen Fällen eine nach § 242 BGB unzulässige Rechtsausübung ist und gegen Treu und Glauben verstößt.
Dafür spricht einiges. Vor dem Hintergrund des enormen Umfangs an Missbrauchsfällen in der Evangelischen und Katholischen Kirche und dem immer stärkeren Willen zur Aufarbeitung dieser Fälle passt es nicht, die Opfer dieser Taten mit der Einrede der Verjährung auf freiwillige Leistungen zu verweisen.
Die Regelungen der Verjährung sollen in erster Linie dem Schuldnerschutz und dem Rechtsfrieden dienen. Allerdings wird bei der Erhebung der Verjährungseinrede in Missbrauchsfällen der Rechtsfrieden gerade nicht hergestellt, weil die Verjährungseinrede als weitere Ungerechtigkeit von den Opfern und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Auch der Gesichtspunkt des Schuldnerschutzes passt nicht zu den Ansprüchen und Situationen der Opfer von kirchlichen Missbrauchsfällen. Es entsteht vielmehr ein offensichtlicher Widerspruch zwischen kirchlicher Lehre und kirchlichem Handeln, wenn auf der einen Seite zur Anerkennung des Leids vergleichsweise geringe Beträge gezahlt werden, aber bei weitergehenden Ansprüchen nach staatlichem Recht die Verjährungseinrede erhoben wird.
Die HEINSEN Rechtsanwälte haben kirchliche Missbrauchsfälle mehrfach gerichtlich und außergerichtlich erfolgreich durchgesetzt. Wenden Sie sich dazu bitte an Rechtsanwalt Theiß Hennig.